Rund um das Corona-Virus befassen sich derzeit gefühlt 90 Prozent der Forscher, Pharmaexperten und Ärzte (und Politiker!) mit demselben. Die Ergebnisse sind bis dato gelinde gesagt (geschrieben): vielfältig. Ein Faktencheck mit vielen Fakten, aber ungewissem Resultat.

Corona – viele neue Erkenntnisse und viele Unsicherheiten (Bild: pixabay)

Schauplatz österreichisches Parlament. Der Nationalrat trat am 22.4 – noch immer „mit Abstand“ – zum Auftakt einer neuen Plenarwoche zusammen. Bundeskanzler Sebastian Kurz lobte die Anstrengungen der Bevölkerung und auch der Opposition, da man die „Maßnahmen gemeinsam beschlossen“ hatte. (Tatsächlich hatte die Opposition in den vergangenen Wochen einen großen Teil der von ÖVP und Grünen eingebrachten Gesetze unterstützt, aber nicht jede Partei alle.) Die Erfolge seien das Verdienst „aller Parteien“. Kritikern, die sagten, dass die Maßnahmen übertrieben gewesen seien, riet Kurz, den „Grundregeln der Mathematik“ zu folgen. Wem das nicht möglich sei, der solle nach Italien, Frankreich oder Spanien schauen: „Dann sieht man schnell, wie die Situation wäre, wenn wir nicht gehandelt hätten.“

Paul Christian Jezek, Chefredakteur Lex-press

Stichwort Italien, mit mehr als 25.000 Corona-Todesopfern einem der weltweit am stärksten betroffenen Länder. Dort sollen „ab Sommer“ Impfstofftests beginnen, kündigte ein Konsortium unter der Führung des italienischen Pharmakonzerns ReiThera an, das mit der Münchner Gesellschaft Leukocare und mit Univercells (Brüssel) einen Impfstoff gegen SARS-CoV-2 entwickelt. Die Produktion des Impfstoffes in großem Maße wird (erst) nach den Tests beginnen – der vorbeugende Impfstoff soll die Produktion von Antikörpern und die Aktivität der Immunzellen fördern. Die Herausforderung sei, Millionen von Dosen im Eiltempo herzustellen.

Den gemessen an der Bevölkerungszahl höchsten Anteil an CoV-Toten ortet die Johns-Hopkins-Universität bisher in Spanien. Dort seien fast 39 Menschen pro 100.000 Einwohner nach einer Infektion gestorben. In Belgien waren es etwa 36, in Italien etwa 35, in den USA etwa acht Todesfälle pro 100.000 Einwohner. Allerdings lassen sich die Zahlen wegen unterschiedlichen Definitionen, differierenden Testquoaten und – schon per definitionem – unbekannten Dunkelziffern nur (sehr) begrenzt vergleichen. Bei den bestätigten Infektionen in ABSOLUTEN Zahlen rangieren jedenfalls mit weitem Abstand die USA vor Spanien und Italien.

Zurück ins heimische Parlament
FPÖ-Klubchef Herbert Kickl gab zu, es sei „unbestritten, dass die Entwicklung im Gesundheitsbereich eine positive ist“. Er stellte jedoch die Frage, warum auch in Schweden Erfolge erzielt werden, wo die Schweden „fast alles anders machen, als Sie das machen“. Kickl warf Kurz vor, „die Bevölkerung in Angst und Schrecken versetzt“ zu haben, um „Ihre neue Normalität“ damit „herzustellen“. Grünen-Klubobfrau Sigrid Maurer hielt dem Beispiel Schweden entgegen, dass dort „dreimal so viele Tote wie in Österreich“ zu verzeichnen seien. Hierzulande gab es am 23.4. 14.932 bestätigte Coronavirus-Fälle, laut Gesundheitsministerium starben 522 Menschen und es wurden 205.835 Tests durchgeführt.

In Schweden hingegen gab es zum gleichen Zeitpunkt (23.4.) laut dem Staatsepidemiologen Anders Tegnell bereits mehr als 2.000 Todesfälle. Angesichts von Bildern gut besuchter Lokale in Stockholm oder Göteborg sprach Ministerpräsident Stefan Löfven eine Art letzter Warnung aus: „Glauben Sie nicht für einen Augenblick, dass wir die Krise gemeistert haben – die Gefahr ist noch lange nicht vorbei.“ Die überwiegende Mehrheit der Bürger habe sich bisher an die Empfehlungen wie die Abstandsregeln gehalten. Aber: „Wir sind bereit, weitere Maßnahmen zu ergreifen.“ Allen Gastronomen müsse klar sein, „dass Restaurants und Bars geschlossen werden, wenn man sich nicht an die Regeln hält“.

Besonders betroffen ist in Europa beispielsweise auch Belgien mit mehr als 4.400 (!) Todesopfern und 33.000 bestätigten Ansteckungsfällen.

In Tschechien wiederum hat am 23.4. ein Prager Gericht einen Großteil der Coronavirus-Maßnahmen der Regierung für rechtswidrig erklärt. Konkret handelt es sich um die Ausgangsbeschränkungen für die Bevölkerung sowie die Schließung des Einzelhandels. Die Maßnahmen hätten als Notstandsgesetze verabschiedet werden müssen, nicht als außerordentliche Verordnungen des Gesundheitsministeriums, entschieden die Richter. Ein einzelnes Ministerium verfüge nicht über die Kompetenz, Entscheidungen dieser Reichweite zu treffen. Selbst in der aktuellen Situation müssten die Regeln des Rechtsstaats eingehalten werden. Geklagt hatte ein Anwalt und Spezialist für Gesundheitsrecht, der die Verordnungen als willkürlich, chaotisch und schlecht begründet kritisierte. Damit würden die Richter die volle Verantwortung für die Folgen ihrer Entscheidung für Gesundheit und Leben der Bevölkerung tragen, kam der Kommentar aus dem Büro von Präsident Milos Zeman. In Tschechien gab es bis zu diesem Zeitpunkt „nur“ 210 Todesfälle sowie 7.136 bestätigte Infektionen.

Erneuter Ortswechsel
In gewisser Weise als „Vorbild“ gilt weltweit Hongkong, wo man ohne kompletten „Lock-down“ bisher offenbar glimpflich durch die Pandemie gekommen ist. „Durch die rasche Umsetzung von Maßnahmen im Bereich der öffentlichen Gesundheit hat Hongkong gezeigt, dass die Übertragung von Covid-19 wirksam eingedämmt werden kann, ohne auf die äußerst störende vollständige Sperre zurückzugreifen, die von China, den USA und westeuropäischen Ländern eingeführt wurde“, urteilt der Wissenschafter Benjamin Cowling von der Universität von Hongkong, der die im renommierten Fachmagazin „Lancet Public Health“ veröffentlichte Studie geleitet hat.

Bis Ende März habe Hongkong einen größeren Covid-19-Ausbruch mit einer Kombination aus Reisebeschränkungen, Quarantäne und Isolierung von Infizierten sowie mit einem gewissen Grad von Kontaktbeschränkungen und einer intensiven Kontrolle auf Infektionen abwenden können. Die chinesische Sonderverwaltungszone habe damit weitaus weniger drastische Kontrollmaßnahmen als die meisten anderen Länder ergriffen. Per 31. März hat die 7,5-Millionen-Metropole lediglich vier Todesfälle und 715 Infizierte. Ein möglicher Grund für diesen Erfolg: Durch die Erfahrungen aus der SARS-Epidemie 2003 ist Hongkong besser ausgerüstet als viele andere Länder, um mit dem Ausbruch von Covid-19 fertigzuwerden.

Und wieder nach Österreich. Laut dem Public-Health-Experten Martin Sprenger – er war Mitglied der Corona-Taskforce des Gesundheitsministeriums – sind demnächst „Dutzende“ Antikörperstudien zu erwarten, die Aufschluss darüber geben sollen, wie hoch die Infektionssterblichkeit tatsächlich ist. (Sprenger rechnet mit einem Wert von 0,2 bis 0,4 Prozent.) Vor allem aber gebe es mit diesen serologischen Querschnittstudien endlich Aufschlüsse über das Ausmaß der Immunität. Eine – umstrittene – Studie der Stanford University im Silicon Valley habe festgestellt, dass die Anzahl derer, die Antikörper gebildet hatten, 50- bis 85-mal höher war als die der positiv getesteten Fälle. Solche Untersuchungen seien jedoch „methodisch knifflig“. Außerdem sind die Antikörpertests derzeit noch recht ungenau.

Sollte im „Land der Seligen“ die Immunität insgesamt (sehr) gering ausgeprägt sein und damit die Herdenimmunität in weiter Ferne liegen, müsse man als zweites mögliches Exitszenario auf eine sichere und effektive Impfung setzen. Das könne aber laut Sprenger – selbst wenn man sehr optimistisch sei – bis mindestens Frühjahr 2021 dauern. Wird in Österreich jedoch eine höhere Immunität festgestellt, müsse man diskutieren, ob es nicht sinnvoller wäre, eben doch das „schwedische Modell“ mit genau abgestimmten Maßnahmen und damit Chancen und Risiken, die man abwägen müsse, heranzuziehen. Außerdem könnten manche Maßnahmen bundesweit gelten und einige nur in einzelnen Bundesländern. Jedenfalls sollte man „wissensbasiert überlegen, welche Strategie uns mit weniger Kratzern durch die Pandemie führt“, und das „wird echt herausfordernd“. Der Monat Mai könnte laut Sprenger jedenfalls zum „Gamechanger“ werden.

Exkurs: Auch die Immunität ist umstritten
Mitte April trat in Südkorea der Verdacht auf, dass sich beinahe 100 Patienten erneut mit dem Corona-Virus infiziert hätten. Joeng Eun Kyeong vom Südkoreanischen Zentrum für Krankheitsbekämpfung (KCDC) glaubt nicht an tatsächliche Neuinfektionen und vermutet, dass das Virus bei den bekanntgewordenen möglichen Wiedererkrankten „reaktiviert“ wurde. Berichte über Rückfälle seien mit großer Vorsicht zu genießen, erklärt auch die Virologin Elisabeth Puchhammer-Stöckl von der Medizinischen Universität Wien. In Österreich gab es dazu bisher keine Meldung.

Es fehlen „belastbare Daten, die von einer echten Reinfektion ausgehen“, sagt Ivo Steinmetz vom Diagnostik- und Forschungszentrum für Molekulare BioMedizin der Medizinischen Universität Graz. Allerdings gibt es auch keinen wissenschaftlichen Beweis, dass man nach einer Infektion mit dem Coronavirus immun dagegen ist. Immerhin halten zahlreiche Experten eine erneute Infektion innerhalb kurzer Zeit für unwahrscheinlich. Denn bei anderen Coronaviren und bei Grippeviren lässt sich eine Immunität beobachten, die dem „immunologischen Gedächtnis“ des Körpers zu verdanken sind. Die bei der ersten Infektion gebildeten Antikörper werden dann bei einem neuerlichen Eintritt eines Virus ausgeschüttet und schützen den Körper vor dem Erreger. In einer – sehr kleinen – chinesischen Studie an Rhesus-Affen, die genetisch dem Menschen sehr ähnlich sind, konnte eine Immunität der Tiere nachgewiesen werden. Auch andere Studien deuten bisher darauf hin, dass der Großteil der genesenen CoV-Infizierten ausreichend Antikörper gebildet hat.

Schäden und Nebenwirkungen abwägen
Zurück zur gesellschaftlichen bzw. politischen Situation: Laut Martin Sprenger sei der von der Regierung beschlossene „Lock-down“ die einzig richtige Entscheidung gewesen und Österreich stehe jetzt sehr gut da. Jedoch wäre ein anderer Maßnahmenmix zu überlegen, denn schon Ende März hätten die Daten gezeigt, dass die Intensivstationen in Österreich wohl gut durch die Krise kommen. Das liegt auch an den Kapazitäten: Unser Land habe bei einem Krankheitsgeschehen, das in Regionen und Ländern wie der Lombardei, dem Elsass, Schweden und Spanien schon den Notstand ausbrechen lässt, noch einige Reserven.

Generell müsse man immer auf „Gewinner“ und „Verlierer“ schauen. Auch wenn Sprenger die Maskenpflicht im Supermarkt als sinnvolle Maßnahme sieht, hätte man zuvor dafür sorgen müssen, dass es in Pflegeheimen, Ordinationen und Spitälern genügend Schutzausrüstung gibt. Aus Public-Health-Perspektive müsse man neben den gesundheitlichen Hochrisikopersonen auch andere vulnerable Gruppen identifizieren und besonders schützen, also etwa Bezieher von Niedrigsteinkommen und Drogensüchtige. Beibehalten sollte man etwa das Verbot von Großveranstaltungen, für Lockerungen plädiert Sprenger vor allem in zwei Bereichen: Praktisch alles, was im Freien stattfindet, sollte erlaubt sein. Und zweitens sollte man Kinder bis zwölf von allen Maßnahmen unbehelligt lassen. Mögliche Schäden durch Schulschließungen wiegen für Sprenger schwerer als die Risiken, die von den Kindern ausgehen. Wer das anders sehe, solle die Evidenz dafür „auf den Tisch legen“, dann könne man das wissensbasiert diskutieren.

„Ich hasse, was Du sagst, aber ich würde mein Leben dafür geben, dass Du es sagen darfst.“ – Ironischerweise stammt dieses berühmte Zitat NICHT von Voltaire, sondern aus einer Biographie über ihn (von Evelyn Beatrice Hall). So viel zur Herausforderung „absolute Wahrheit“.

Daten auf den Tisch!
In einem Kritikpunkt sind fast alle heimischen Wissenschaftler einig: Aus anderen Ländern seien Informationen aus jeder Intensivstation auch für heimische Forscher auf Knopfdruck verfügbar. In Österreich gebe es hingegen keine zugänglichen Daten, selbst für die renommiertesten Forschungsinstitutionen. Alles sei unter Verschluss – und es sei auch nicht erklärt worden, auf Basis welcher Daten und Studien Entscheidungen wie die lange Beibehaltung der Schulschließungen und die Einführung der Maskenpflicht getroffen worden seien. Diesen fehlenden Datenzugang kritisierte beispielsweise auch Andreas Sönnichsen, der Leiter der Abteilung Allgemeinmedizin an der Medizinischen Universität Wien.

International gibt es laut Sprenger derzeit schon rund 6.000 Studien zum Coronavirus. In vielen Bereichen sei das gesicherte Wissen dennoch vage: „Das Virus gibt uns sehr, sehr viele Rätsel auf“ – und das auf mehreren Ebenen. Dass betagte Menschen mit Vorerkrankungen besonders gefährdet sind, gilt als unbestritten. Es gebe aber auch in der Hochrisikogruppe der Personen über 90 Jahre positiv getestete Menschen, welche die Infektion fast ohne Beschwerden überstehen. Vice versa müssen z.B. in den USA auch junge Menschen auf der Intensivstation behandelt werden. Sprenger verweist auch auf einen Paradigmenwechsel bei der Untersuchung der Ansteckung: Am Anfang habe man stark von Schmierinfektionen berichtet, mittlerweile sei die Tröpfcheninfektion in den Fokus gerückt und werde eher als die dominierende Verbreitung des Virus gesehen.

Sehr interessant ist auch die Frage, warum die Reproduktionszahl des Virus in Österreich (und auch in Deutschland und anderen Ländern) schon gesunken ist, noch bevor der „Lock-down“ in Kraft trat. Die sehr häufig auch im TV erwähnte Reproduktionszahl gibt an, wie viele andere Personen eine infizierte Person ansteckt: Liegt sie unter eins, wird das Wachstum der Ausbreitung gehemmt. Erklären lässt sich dies mit gesteigerter Achtsamkeit und Hygienemaßnahmen der Bevölkerung erklären – oder mit Immunität in der Bevölkerung. Ohne serologische Querschnittstudien ist das laut Sprenger (noch?) nicht zu beantworten.

Keine Antwort gibt es übrigens auch – und das noch lange! – auf die Frage, welche Folgen die beispiellosen ökonomischen „Rettungspakete“ der einzelnen Staaten haben werden und wie es generell mit der Wirtschaft „weitergeht“. Auch wenn man diesem Faktor zahlreiche Lexpress-Seiten widmen könnte … laut IWF-Weltwirtschaftsausblick wird 2020 vermutlich jedenfalls die schlimmste Rezession seit der Großen Depression in den 1930er Jahren bringen.

27.4.2020 / Autor: Paul Christian Jezek / paul.jezek@lex-press.at