Die Abgabenhöhe und die Verhältnismäßigkeit der steuerlichen Auswirkungen sind Kriterien zur Entscheidung auf Wiederaufnahme. (Symbolbild: pixabay.com)

Die Wiederaufnahme des Verfahrens ist ein in der Finanzverwaltungspraxis probater Rechtsbehelf, um in bereits rechtskräftig beendete Verfahren wieder einzugreifen. Liegen berechtigte Wiederaufnahmegründe vor, ist die Wiederaufnahme keineswegs zwingend zu verfügen. Vielmehr hat die Behörde in Ausübung ihres Ermessens zu entscheiden. Die Höhe der Abgabenbeträge (absolute und relative Geringfügigkeit) sowie die Verhältnismäßigkeit der steuerlichen Auswirkungen sind Aspekte (von vielen), welche die Ermessensübung tangiert und dazu führen kann, dass von einer Wiederaufnahme abzusehen ist.

Die Wiederaufnahme als rechtskraftdurchbrechende Maßnahme
Betriebsprüfungen finden in der Regel lange nach Eintritt der Rechtskraft von Bescheiden statt. Ebenso kommt es in der Praxis oftmals vor, dass Abgabepflichtige nachträglich Betriebsausgaben geltend machen möchte, jedoch das Abgabenverfahren bereits rechtskräftig beendet ist. In beiden Fällen kann – bei Vorliegen bestimmter Voraussetzungen – mit der Wiederaufnahme des Verfahrens die Rechtskraft eines Bescheides durchbrochen werden. Ob bei Vorliegen eines berechtigten Wiederaufnahmegrundes (zB neuhervorgekommene Tatsachen) die Wiederaufnahme tatsächlich verfügt wird, liegt im Ermessen der Abgabenbehörde. Ermessensentscheidungen sind stets unter Berücksichtigung aller ermessensrelevanter Umstände zu begründen. Die absolute und relative Geringfügigkeit der Abgabenbeträge sowie Verhältnismäßigkeit der steuerlichen Auswirkungen können dazu führen, dass von einer Wiederaufnahme abzusehen ist. In derartigen Fällen steht der Verwaltungsaufwand in keinem wirtschaftlichen Verhältnis zu den steuerlichen Auswirkungen, sodass konsequenterweise keine Wiederaufnahme zu verfügen ist.

Absolute und relative Geringfügigkeit
Die absolute Geringfügigkeit stellt auf die absolute Höhe des in Folge der Wiederaufnahme entstehenden Abgabennachforderungsbetrags ab. Die relative Geringfügigkeit ist anhand der steuerlichen Auswirkungen der konkreten Wiederaufnahmegründe im Verhältnis zum bisherigen Steuerbetrag oder den bisherigen Steuerbemessungsgrundlagen zu beurteilen. Sind die Abänderungen des wiederaufzunehmenden Bescheides sowohl absolut als auch relativ geringfügig, hat die Ermessensübung zugunsten der Rechtsbeständigkeit (somit keine Wiederaufnahme) auszufallen. Fraglich ist jedoch, bis zu welchen Beträgen von Geringfügigkeit ausgegangen werden kann.

In der Judikatur wird diese Grenze relativ weit unten angesetzt. Nachfolgende Beispiele aus der Rechtsprechungspraxis sollen dies plakativ veranschaulichen:

  • Die nachträgliche Versagung von Vorsteuern iHv EUR 746 stellt keine bloß geringfügige Änderung dar (VwGH 30.6.2021, Ra 2019/15/0125).
  • Betriebsausgaben iHv EUR 120 sind absolut geringfügig und im Verhältnis zu einem Einkommen iHv 0,4 % auch relativ geringfügig (BFG 10.4.2018, RV/5100361/2018).
  • Eine aus den Wiederaufnahmegründen resultierende Körperschaftsteuer iHv EUR 1.260 kann weder als absolut noch relativ geringfügig bezeichnet werden (VwGH 24.4.2014, 2010/15/0159).
  • Eine Umsatzsteuernachforderung iHv rund EUR 145 stellt bei einer erklärten Umsatzsteuer iHv rund EUR 600 keine bloß geringfügige Änderung dar (VwGH 28.11.2002, 98/13/0143).

Daraus folgt, dass als Richtwert für die Praxis Änderungen im oberen dreistelligen Bereich bzw im unteren vierstelligen Bereich als absolut bzw Änderungen bis zu einem Prozent als relativ geringfügig angesehen werden können. Darüber hinaus müssen diese steuerlichen Auswirkungen auch in ihrer Gesamtheit geringfügig sein. Diesem Umstand kommt insbesondere bei Wiederaufnahmen betreffend mehrere Verfahren (zB ESt und USt für 2015 bis 2017) Bedeutung zu. Für die Frage der Geringfügigkeit sind in diesen Fällen die steuerlichen Auswirkungen mehrerer Jahre aufzusummieren bzw zu saldieren. Demnach müssen die steuerlichen Auswirkungen auch über den gesamten Zeitraum, welcher wiederaufgenommen werden soll, die Geringfügigkeitsgrenze überschreiten, um einer Wiederaufnahme zugänglich zu sein. Diese steuerliche Gesamtbetrachtung gilt allerdings nur unter der Prämisse, dass eine Saldierung nur innerhalb derselben Abgabenart (keine Saldierung von ESt und USt) und in jedem Jahr gleichartige Wiederaufnahmegründe vorliegen, zulässig ist.

Geringfügigkeit und Verhältnismäßigkeit
Sind die absoluten oder relativen Geringfügigkeitsgrenzen überschritten, müssen die Auswirkungen der Wiederaufnahme jedoch auch im Hinblick auf ihre steuerliche Gesamtauswirkung überprüft werden. Dabei hat die Abgabenbehörde abzuwägen, ob der formale Grund des neuen Bescheides (Wiederaufnahmegrund) in einem angemessenen Verhältnis zum Ergebnis der neuen Sachentscheidung steht. Je mehr die festgestellten Wiederaufnahmegründe in ihren steuerlichen Auswirkungen von jenen abweichen, die sich insgesamt als Folge der Wiederaufnahme eines Verfahrens ergeben, desto mehr Gewicht ist den rechtlichen Interessen des Abgabepflichtigen am Weiterbestand des bisher erlassenen rechtskräftigen Bescheides, somit der Rechtsbeständigkeit, beizumessen.

Mit diesem Umstand hat sich die Abgabenbehörde im Rahmen der Ermessensübung auseinanderzusetzen, wobei sie dabei insbesondere das bisherige Gesamtverhalten des Abgabepflichtigen zu berücksichtigen hat. Eine etwaige Abgabenverkürzungsabsicht des Abgabepflichtigen wird zu berücksichtigen sein.

Fazit
Die Geringfügigkeit einer steuerlichen Auswirkung ist idR leicht überschritten, zumal in der Rsp bereits absolute Änderungen im höheren dreistelligen bzw unteren vierstelligen Bereich beziehungsweise relative Änderungen von mehr als einem Prozent nicht mehr als geringfügig betrachtet werden. Betrifft die Wiederaufnahme des Verfahrens mehrere Veranlagungsjahre, ist in einer Gesamtbetrachtung zu beurteilen, ob bloß geringfügige Änderungen vorliegen oder nicht, wobei innerhalb derselben Abgabenart die Auswirkungen zu saldieren sind.

Wird eine dieser Grenzen überschritten, muss zusätzlich die Verhältnismäßigkeit der Auswirkungen berücksichtigt werden. Hierzu werden die steuerlichen Auswirkungen, welche sich unmittelbar aus den konkreten Wiederaufnahmegründen ergeben in Verhältnis zu jenen gesetzt, welche sich zusätzlich, also unabhängig von einem Wiederaufnahmegrund ergeben.

Diese Aspekte hat die Behörde stets im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen. Ihre Überlegungen in diesem Zusammenhang sind in der Bescheidbegründung hinreichend zu begründen, widrigenfalls eine rechtswidrige Ermessensentscheidung vorliegt, die mit Bescheidbeschwerde bekämpft werden kann.

28.3.2022 / Autoren: Mag. Robert Rzeszut und Philip Predota, LL.M. (WU) / Deloitte Österreich / www.deloitte.at